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MUMOK PERSPEKTIVEN

AVANT-GARDE AND LIBERATION

Integrationsbiographische Netzwerke

Integrationsbiografische Netzwerke

Mit den Integrationsexpertinnen des Vereins NACHBARINNEN in Wien erhalten Sie einen sehr persönlichen Einblick.

Ihre Gespräche mit den Ausstellungswerken bergen nicht nur eigene Migrationserfahrungen, sondern speisen sich aus mehr als zehn Jahren intensiver Sozialarbeit, die sie in zurückgezogen lebende Communities und in schwer oder über institutionellen Weg gar nicht erreichbare Familien geführt hat.

 

Das Team des mumok ist stolz, seit 2020 mit den NACHBARINNEN an Projekten arbeiten zu dürfen und gemeinsam neue Wege in der Sammlung und Vermittlung zu beschreiten.


Die NACHBARINNEN sind ausgebildete Sozialassistentinnen, die ihren zurückgezogen lebenden Landsleuten auf Augenhöhe begegnen, um deren soziale Schieflage zu sortieren und zu verändern. Sie arbeiten im öffentlichen Raum und besuchen Menschen in ihren Wohnungen. Die Nachbarinnen bieten den betreuten Familien Methoden und Strategien zur positiven Veränderung der eigenen Lebensverhältnisse an – und das immer in der eigenen Muttersprache. Ziel ist es, die eigene Motivation durch Selbstermächtigung zu aktivieren und eine Integration zu ermöglichen, die durch professionelle Begleitung aus der eigenen Community wächst.

 

Auf eigenen Wunsch der Autor*innen wurden in diesem Beitrag keine Klarnamen genannt.

 

Hinweis zu sensiblen Inhalten:

Der folgende Inhalt enthält Hinweise auf koloniale Gewalt, Krieg und kulturelle Zerstörung.

Perspektive zu

Diedrick Brackens

Mich haben sofort die Teppiche von Diedrick Brackens angesprochen. Ich bin in Istanbul aufgewachsen – unsere Teppiche aus der Türkei sind nicht gewebt, sondern geknüpft. Aber die teuren, edlen sind genauso dünn wie diese gewebten. Auch wunderschön! Jeder Teppich erzählt eine Geschichte, leider kann sie fast niemand hier lesen. Diese Teppiche sind auch Musik – ich kann sie gut hören. Ich habe schon viele Frauen ins Museum gebracht, sie dachten vorher, wie ich, sie haben Wichtigeres zu tun und was bedeutet das schon alles. Wenn ich es ihnen dann erklärt habe, was ich vorher gelernt habe, fanden diese Frauen alle etwas in ihrem Kopf dazu, Kunst heilt so viel.

 

Also noch einmal, ich komme aus Istanbul, ich kann auch sagen, aus dem goldenen Byzanz – klingt das nicht gut? Meine eigene Geschichte ist fast wie damals:
Zum Beispiel: Kaiser Otto I. wollte seinen Sohn gut verheiraten und hat dazu einen Botschafter nach Byzanz geschickt. Der dortige Kaiser Nikephoros Phokas, der sich als einzig wahren Kaiser gesehen hat, hatte nur Spott für ihn. Er hat diesen Botschafter so ausgelacht und wo es ging, erniedrigt. Aber Otto hat nicht lockergelassen. Der nächste Kaiser in Byzanz schickte ihm schließlich seine Nichte Theophanu für seinen Sohn Otto II. ins Deutsche Reich.

 

Ich bin mit 14 nach Österreich geschickt worden. Mein Mann hat auch hier auf mich gewartet.
Ich hoffe für Theophanu, dass Adelheid mehr aus ihrer eigenen Jugend gelernt hat und netter zu ihr war als meine Schwiegermutter. Aber Theophanu war eine unglaublich starke Frau. In meinen Grenzen mach ich es ihr nach. Zuerst habe ich das in meinem kleinen privaten Umfeld getan. Nach recht schwierigen Lehrjahren habe ich meinen Kreis erweitert und bin zu Frauen gestoßen, die eine ähnliche Geschichte und genauso viel Kraft hatten. Jetzt arbeite ich mit sehr viel Freude in einem Frauenkollektiv. Für die Stärkung von Frauen, Bildung, Demokratie und Gleichberechtigung.

 

Ich habe erkannt, dass die Kultur in meinem Land – auch wenn die politische Situation dann schwieriger wurde – viel älter, viel durchdachter und einfach zivilisierter war. Menschen, die sagen, sie sind in Wien „wohnhaft" und ihre Freiheit sei durch Migration in Gefahr, sind nicht zivilisiert.

 

Ich habe viel Zurückweisung, Misstrauen, Erniedrigung und Ausgrenzung erlebt. Solange ich meine Haare zeigte, waren sie zu Schwarz, seit ich ein Kopftuch trage, ist es zu bunt.

Unser Frauenkollektiv tritt für eine offene Beziehung zwischen Kulturen ein, wir wollen einen neuen Gesellschaftsvertrag. Einen Vertrag, der verhandelbar ist. Einen Vertrag, in den neue Themen hinein und alte herausgenommen werden dürfen. Inhalte sollen von allen diskutiert und nicht von ein paar Außenseitern Angst gemacht werden. Wir verweben die Kulturen wie Brackens seine Teppiche.

Das ist Kunst! Kunst für Österreich.
 

Perspektive zu Diedrick Brackens

Perspektive zu

Omar Ba

Ich komme aus dem Sudan. Früher Obernubien. Wir waren immer mit Ägypten verbunden. Friedlich und kriegerisch. Es ist ein Land, in dem jetzt gerade Krieg ist. So richtig blutige, rücksichtslose Kriege innerhalb des Landes, gibt es erst seit der Unabhängigkeit von Europa vor ca. 50 Jahren. Es war natürlich nicht völlig friedlich vorher, aber sogar im Kampf gab es eine gewisse Kultur. Ich betone das deshalb so, weil wir ja vorher eine jahrtausendealte Geschichte hochzivilisierter Kultur hatten. Genauso wie Ägypten und viele andere Länder auf dem Kontinent. So kritisch wir über Ägypten oft denken – wir sind uns nichts schuldig geblieben – es ist ein afrikanisches Land, Europa soll sich nicht wichtigmachen, genug.


Ägypten hat sich mit uns das Land um den Nil geteilt, wir waren ein Teil der ägyptischen Pharaonendynastien, was war denn da in Europa? Und noch früher hat sich bei uns der homo sapiens entwickelt, in Europa streunte der Neandertaler. Aber alles, was wir als Kultur, Lebensform, Miteinander und Abgrenzungen voneinander vorher hatten, haben viele von uns verloren, es wurde uns von Europa weggenommen und wir haben so viel verlernt.

 

Es ist, wie wenn Kinder, die traumatisiert wurden, auf falsche Bahnen kommen. Schlimm. Uns fehlt die individuelle Freiheit, um derentwillen sich so viel fürs Land gelohnt hat. Sie war uns selbstverständlich. Sie war durch Sitte und Gesetz garantierter Besitz jeder und jedes Einzelnen. Auch die Ägypter haben uns und wir sie versklavt, aber so richtig blutige Knechtschaft kam erst wieder als Kolonie des hochzivilisierten Europas. Wir sind mit der Peitsche zurückgejagt worden bis auf den Punkt, wo man schließlich nurmehr sein nacktes Ich, seine einmalige Existenz verteidigt. Und davon erholen wir uns nur langsam.

 

Ich bin mit meiner Familie hierhergezogen, bevor der letzte Krieg begonnen hat, es ist bei uns ein ständiges Auf und Ab, Krieg, Weg in die Demokratie, Krieg.
Meine Familie und ich, wir denken seit Jahren darüber nach, wie wir hier in Österreich, in dem die Demokratie durchaus nicht ungefährdet ist, die Kraft, die am besten für Demokratie, für Gleichberechtigung und für das Wohlergehen aller Menschen einsetzbar ist – nämlich die Frauen – zu stärken.

 

Wir sind hier in Wien ein Frauenkollektiv aus verschiedenen Ländern, die sich zur Arbeit für Österreich zusammengetan haben. Kunst ist ein wesentlicher Inhalt unserer Arbeit. Kunst spricht mit allen Menschen und für alle Menschen. Was Kunst ist, definiere ich für mich. Das gilt für bildende Kunst, Literatur, Musik, Architektur, für alle Bereiche. Das kann niemand für mich bestimmen und niemand kann mir den inneren Bezug zu einem Werk vorschreiben, auch wenn uns fast alles aus dem Sudan davongetragen wurde nach England und von dort weiterverkauft. Denken Sie an Mwazulu Diyabanza mit dem Begräbnispfahl aus Süd-Sudan.

 

Ich will für mein Land keine Hilfe, ich will, dass es repariert wird. Oder besser neu gemacht. Dazu gehört viel, vom Aufbau der Wirtschaft, wir haben nicht nur Gold, aber Gold verführt – ein Aufbau, unabhängig von Europa, wir müssen etwas neues Eigenes aufbauen dürfen – bis zur Rückgabe von Kunst. Wir können und müssen über alles reden. Tun wir das bitte, statt herumzureden, wer was wann wie darf und was nicht.
Ich möchte aufhören, mich in Fanonsschwarze Haut, weiße Masken" wiederzufinden und wie er für Frankreich, sage ich für Österreich „Wir Farbigen weigern uns Außenseiter zu sein, wir nehmen voll und ganz teil am Schicksal Österreichs."
 

 

Perspektive zu Omar Ba

Perspektive zu

The Otolith Group

Ich bin in Isfahan aufgewachsen, es ist eine so wahnsinnig schöne Stadt mit vielen Museen und unglaublichen Sehenswürdigkeiten. Leider hat die islamische Regierung die Werte und Moralvorstellungen nach der islamischen Revolution 1979 mit Macht und Gewalt geändert und vorgegeben. In dieser Zeit und während dem ersten Golfkrieg bin ich aufgewachsen, damals gab es leider keine Zeit und keinen Sinn für Museen, das war meine Kindheit und Jugend, ich glaube, ich habe ziemlich viel versäumt.

 

Ich bin mit meiner Familie 2008 aus dem Iran hierher geflohen. Ich wollte Freiheit und Gleichberechtigung, fühlte mich aber in Wien nicht richtig repräsentiert. Obwohl ich mich bemüht habe, mich anzupassen, war es schwer zu sehen, dass meine persische Kultur hier nicht so geschätzt wurde.

 

Vor zwei Jahren habe ich endlich zu einem Frauenkollektiv hier in Wien gefunden. Wir arbeiten für die Gleichberechtigung und Teilhabe aller Menschen in dieser Stadt - Kunst bedeutet viel in unserer Arbeit.

Ich bin sehr froh über diese Ausstellung hier, wir arbeiten schon lange mit diesem Museum zusammen und haben erfahren, dass Kunst durch gute Erklärung und langes Anschauen vieles in Worte fassen lässt, das vorher nicht einmal gedacht werden konnte. Eine Frau hat mir erzählt, dass sie im Museum nach meiner Führung sehr müde und nachdenklich wurde und jedes Mal, wenn sie müde wird, weiß sie, dass sie etwas daraus lernen würde.

 

Durch die Kunst kann der Mensch seine Gedanken und Fantasien verwirklichen. Man kann sich mit der Kunst beruhigen. Ich glaube daran, dass die Kunst den Menschen mit verschiedenen Kulturen und Zeitabschnitten vereinigt. Man braucht dafür keine Sprache. So haben sich in dieser Ausstellung heutige Künstler mit alten Künstlern vereinigt und sprechen durch sie, das ist schön!

 

Ich freue mich sehr, dass Tagore einen breiten Platz hier hat, ich mag seine Erzählungen so gern. Der Zugang von Atul Dodiya und auch von der Otolith Group gefällt mir, weil er den neuen Nationalismus und die Instrumentalisierung der Religion zur Macht thematisiert, darunter haben wir im Iran so gelitten. Zugleich verstehe ich bei Dodiya nicht, was Gandhi mit Konzeptkunst zu tun hat. Er wollte ganz Reales ändern, er war doch nicht nur Konzept und Idee, er hat umgesetzt, verstehe ich das falsch?

 

Die Frauen, die wir hergebracht haben, wurden sehr mit dem Sinn des Lebens beschäftigt. Sie haben sich gedacht, ob sie wirklich bis zum Ende ihres Lebens nur mit der Küche und Kindern beschäftigt sein wollen, nur weil das zu Hause so ist? Sie haben sich mit ihren Gefühlen beschäftigt, was sie kaum im Alltag machen. Dann haben sie begonnen auf ihre Gefühle und Bedürfnisse zu hören, sie zu spüren und zu zeichnen. Manche Gefühle waren Tabu aber sie haben sich getraut, diese zu zeichnen. Sie haben gelernt, dass die Kunst ihnen den Weg zeigt sich zu äußern und sich auch mit anderen zu verbinden.

 

Das Thema von Tagore, die Bedeutung des Jetzt in der Zukunft, hat mich sehr berührt. Das überlegen wir doch andauernd, wie können wir zumindest eine Fußnote der Geschichte werden. Wenn wir Kunst und sozialen Aktivismus weiter so gut verknüpfen können, kann sein, dass wir durch eine zukunftsjetzige Fußnote belohnt werden.

 

Tagore wird sicher ewig leben. Er lebte in einem starken Land, zu dem mir noch einfällt: die erste Riesenrebellion gegen die East India Company 1857 wird oft beschrieben, aber überall liest man nur von kämpfenden Männern. Lakshmibai war die Prinzessin der letzten, gegen die Briten widerständigen Dynastie. Sie hat die Kämpfe angeführt, war mutig, klug, gebildet und gerissen. Bei fairer Verteilung der Waffen hätte sie sicher gewonnen. Sie ist eine meiner Heldinnen.

 

Ein spielerischer Ausgleich dafür war das Fußballmatch kurz vor dem ersten Weltkrieg in Calcutta, die Inder spielten barfuß und gewannen gegen die hochmütigen Briten, die das nie und nimmer erwartet hätten und dann völlig zerstört waren.

Bei diesem Freudenfest wäre ich so gern dabei gewesen!

Dafür mussten dann 1 Million Inder für die Briten in den ersten Weltkrieg ziehen, wie absurd.

 

Es lassen sich sicher noch viele solche Beispiele finden. Ich bin sehr froh, dass ich gemeinsam mit anderen Frauen für das Recht auf Freiheit kämpfen darf und freue mich auf den Tag, an dem ich ohne Angst nach Isfahan zu meiner Familie reisen kann.

 

Perspektive zu The Otolith Group

Perspektive zu

Serge Attukwei Clottey

Dieses Werk von Serge Attukwei Clottey ist so unglaublich dicht. Seine Kunst bewegt jeden, man muss die Schleifen im Kopf zulassen, sie sind das Lasso fürs Herz. 

Clottey erzählt aus Ghana und ich habe nachgelesen: das alte Ghana, von dem das heutige Ghana den Namen hat, war eines der ältesten Königreiche und wurde von einem arabischen Reisenden vor 1000 Jahren so beschrieben: „der König besitzt einen wunderschönen Palast. Er schmückt sich wie eine Frau und auf dem Kopf trägt er eine hohe Mütze, verziert mit Gold und Edelsteinen. Während Audienzen sitzt er in einem Kuppelbau, der mit zehn Pferden umstellt ist, mit goldbestickten Decken." Ghana war durch Handel mit Europa sehr reich. 

 

Die Portraits der jungen Schwarzen Männer von Clottey erinnern mich an diesen König von Ghana. 

Es ist alles so verwoben, die Portraits sind den ersten Fotoportraits der Dekolonisation nachempfunden. Seydou Keïta war ein Fotokünstler aus Mali – dem alten Königreich Ghana mit dem wunderbar geschmückten König. Keïta hat mit einer Kodak Brownie fotografiert, diese Kamera löst bei mir immer den Horror der belgischen Herrschaft im Kongo aus, die abgehackten Hände und Füße derer, die nicht schnell genug gearbeitet haben, wurden auch mit einer Brownie festgehalten. 

 

Ich komme aus Tschetschenien. Ich bin mit meiner Familie aus dem Krieg geflohen. Ständige Angst vor Bomben, Gewalt und Folter haben uns zermürbt. Der größte Unterschied zwischen Ghana und uns ist die ganz andere Art der Bombe, die Ghana getroffen hat. Ngũgĩ wa Thiong’o, ein großer kenianischer Schriftsteller nannte sie die kulturelle Bombe, die von Europa abgeschossen alles Denken verwüstet hat. Die kulturelle Bombe, sagt er, löscht den Glauben eines Volkes an seine Namen, seine Sprachen, seine Umwelt, an das Erbe seines Kampfes, an seine Einheit, an seine Fähigkeiten und schließlich an sich selbst aus. Sie bewirkt, dass es seine Vergangenheit als Versagen sieht und sich davon distanzieren will; indem es zum Beispiel die Sprachen der Kolonisatoren anstelle der eigenen spricht." Thiong’o hat in den 70er Jahren begonnen in Kikuyu, der Sprache seines Landes zu schreiben und damit viel bewegt. 

 

Unser Krieg war schrecklich. Die Soldaten haben sich unfassbare Dinge einfallen lassen, um uns die Würde bis in den Kern zu nehmen. Ich würde sie Barbaren nennen, das Wort trifft einen anderen Aspekt in Clotteys Werk: die Klebebänder: Marcus Omofuma war ein Schock für uns alle. Barbaren in Uniform, das bekommen auch viele Junge von uns zu spüren.

 

Ich bin Chemikerin, ich untersuche alle Dinge immer ganz genau. So bin ich auch über die Beschäftigung mit diesen wunderschönen Portraits von Serge Attukwei Clottey zu anderen ghanischen Künstler*innen gekommen, die zur Aufarbeitung der Geschichte gefunden haben. Kennen Sie „Rosenfelde" von Nnenna Onuoha? Diese junge Frau hat mehrere Künstlerkolleg*innen zu einer tollen Aktion zusammengeholt. Das allseits bewunderte Schloss Friedrichsfelde, dessen wahre Entstehungsgeschichte durch Gold aus Raub und Geld aus dem Sklavenhandel der Deutschen Barbaren in Ghana unbekannt ist, haben diese jungen Leute durch Tänze, Performances und Musik in etwas verwandelt, in das ich demnächst reisen muss, um mit diebischer Freude diese Energie zu tanken. Die traurigen Geister der damaligen Goldküste wurden durch Kunst der Nachfahren getröstet und finden endlich Ruhe. Wenn Tschetschenien irgendwann unabhängig, frei und demokratisch werden sollte, würde ich diese Gruppe gerne zu Workshops im ganzen Land einladen, damit die Menschen dort wieder frei atmen können.

 

Ich bin seit 20 Jahren in Österreich. Durch den Krieg und die Flucht und fast zwei Jahre in Flüchtlingslagern bin ich nicht verwöhnt. Ich habe viele Jahre nach einem sinnvollen Job in Wien gesucht, schließlich bin ich Chemikerin und das ist keine Ausbildung zur Reinigungskraft. Seit ein paar Jahren habe ich einen wirklichen Beruf gefunden: ich arbeite in einem Frauenkollektiv, das sich zum Ziel gesetzt hat, durch Kunst und Bildung, Selbstachtung und Selbstbestimmtheit den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Wir arbeiten für die Würde jedes Menschen. Ich bin Clottey sehr dankbar, mich wieder in die Mitte dieses Weges geführt zu haben.

 

Perspektive zu Serge Attukwei Clottey

Perspektive zu

Kunst und Widerstand

Kunst spielt eine zentrale Rolle in der Formung unserer Identität und unserer Wahrnehmung der Welt. Kunst spielt für mich eine große Rolle. Als Frau mit Migrationsgeschichte, die in Österreich lebt, finde ich oft keinen persönlichen Bezug zu hiesigen Ausstellungen, deshalb freue ich mich schon lange auf die jetzige. Meistens wird europäische Kunst und diese nur sehr repräsentativ gezeigt und da frage ich mich, wie ich mit meiner kulturellen Identität ein Interesse für Kunst entwickeln kann. Darüber hinaus möchte ich versuchen zu beschreiben, wie Kunst nicht nur als Ausdrucksmittel, sondern auch als Form des Widerstands gegen kulturelle Assimilation und Bewahrung der eigenen kulturellen Identität dienen kann, insbesondere für Menschen wie mich, die Migrationsgeschichte mitbringen.

 

Die Kolonisation hat dazu geführt, dass ich und viele andere keinen Bezug zu Kunst finden können. Wenn ich an Kunst denke, kommen mir europäische Künstler*innen und Kunstwerke auf Anhieb in den Sinn. Dabei stamme ich aus Afrika, spezifisch Somalia, und habe oft nicht das Gefühl, die Zielgruppe vom eurozentrischen Kunstkanon zu sein. Menschen, die wie ich aussehen, wurden und werden oft entmenschlichend dargestellt oder scheinen nicht einmal so auf. Dazu kommt, dass man eine Leidenschaft und ein ausgeprägtes Wissen über Kunst und Kunstgeschichte haben muss, um afrikanische Kunst zu kennen. Durch Jahrhunderte der Unterdrückung und Knebelung afrikanischer Kunst und dem westlichen Kunstkanon wird der normale Kunstkonsument, der zu dem Thema nicht besonders belesen ist, sich damit auch nicht befassen.

 

Es stellt sich die Frage, wie ist das möglich? In jedem Fall von Kolonisation quer durch die Geschichte waren die Kunst und die Sprache des Landes die ersten Aspekte der Kultur, die angegriffen und verboten wurden. Denn, wenn diese Aspekte einer Gesellschaft ruiniert sind, wird genau das, was die Menschen zusammenbringt, eliminiert und damit das, wofür die Menschen kämpfen, um ihre Identität und Geschichte zu erhalten. Oft sind es die Kunst, Traditionen und Kultur, die uns mit unserer Vergangenheit und unseren Vorfahren verbinden, wo wir Fantasien entwickeln, Trauer oder Wut loswerden, Identitätskrisen reflektieren können. Das gilt für jede Sparte der Kunst.

 

Für mich ist Kunst aber auch eine Möglichkeit und eine Form des Widerstands von marginalisierten Gruppen. Ein gutes Beispiel dafür ist wie Afro-Amerikaner*innen mit Musik als kraftvolle Form der Kunst, ihre afrikanischen Wurzeln erhalten und feiern. Hip-Hop, Reggae, Blues, Jazz und Rock ‘n‘ Roll haben afrikanische Einflüsse durch Rhythmus und Flow. Das hilft einer Gruppe von Menschen, die seit mehr als 400 Jahren von ihrer Heimat in Afrika getrennt wurde, sich trotzdem mit ihren Wurzeln zu verbinden. Darüber hinaus zeigt sich der Geist des Widerstands in verschiedenen Formen der Kunst von Afro-Amerikaner*innen, wie in den Gemälden von Ernie Barnes, in denen oft freudige tanzende und spielende Schwarze Menschen dargestellt werden. Diese Kunstwerke stammen aus der Zeit der Rassentrennung, die mit nur wenig Freude für Schwarze Menschen verbunden ist. Dennoch war Barnes‘ Ziel, die Menschlichkeit und Leichtigkeit von Afro-Amerikaner*innen inmitten von Unterdrückung zu zeigen.

 

Ein weiteres Beispiel des Widerstands ist einer der bedeutenden Schriftsteller und Regisseure Afrikas: Ousmane Sembène aus Senegal, der als „Vater" des afrikanischen Kinos gilt. Seine Filme befassen sich mit wichtigen sozialen und politischen Themen im post-kolonialen Afrika. Nur als Beispiel – „Mandabi" ist großartig, witzig und klug. Auf die Frage, ob seine Filme in Europa verstanden werden würden, antwortete er in einem Interview: „Europa ist nicht mein Zentrum. Europa ist nicht die Peripherie Afrikas. Sie (die Europäer) sind über 100 Jahre lang in meinem Land geblieben und sprachen nicht meine Sprache, ich spreche ihre Sprache. Für mich hängt die Zukunft nicht davon ab, ob ich von Europa verstanden werde. Ich würde gerne wollen, dass sie mich verstehen, aber es bedeutet nichts für mich… Warum wollen Sie, dass ich wie die Sonnenblume bin, die um die Sonner kreist. Ich bin selbst die Sonne." Das ist eine der schönsten Verbildlichungen von „decenter white".

 

Hinsichtlich dieser Reflexionen über die Bedeutung von Kunst als Form des Widerstands und als Mittel zur Bewahrung kultureller Identität möchte ich betonen, dass Kunst eine kraftvolle Möglichkeit darstellt, das Miteinander zu stärken und die Stimmen marginalisierter Gruppen zu erheben. Während wir uns mit den Herausforderungen der Unterdrückung auseinandersetzen, erinnern uns Kunst und Kultur daran, wer wir sind, woher wir kommen und wofür wir stehen. Ich erhoffe mir, dass dieser Dialog über Kunst und Widerstand dazu beitragen, Brücken zu bauen und Verständnis zu fördern, während wir gemeinsam eine Zukunft gestalten, die von Vielfalt und Inklusion geprägt ist. Dafür habe ich mich einem international zusammengesetzten Frauenkollektiv hier in Wien angeschlossen. Wir arbeiten für sozial ausgegrenzte und isoliert lebende Familien aus fünf verschiedenen Sprachgruppen. Die Partizipation in sozialen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Belangen ist das, was wir als Ziel einer Gesellschaft sehen. Ein sehr wichtiges Werkzeug in unserer täglichen Arbeit ist die Vermittlung von Kunst, die wie ich eingangs erwähnte, so viel in jedem Menschen auslösen, heilen und bewegen kann. Die Menschen im mumok sind uns dabei seit Jahren unglaublich wertvolle KooperationspartnerInnen.

 

Perspektive zu Kunst und Widerstand